Das Abwägungsgebot, § 1 (7) BauGB

— 18.08.2020 —

Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. 

Das Abwägungsgebot ist das zentrale Gebot rechtsstaatlicher Planung. Es ist gleichermaßen bestimmend für de  planerischen Entscheidungsvorgang wie auch für die Beurteilung des Ergebnisses der Planung. Das von Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelte Abwägungsgebot ist eine spezifische Rechtsfigur sozialgestaltender, staatlicher Planung, das anhand der Bauleitplanung entwickelt worden ist, vgl. Battis, Komm. BauGB, 13. Auflage, § 1, Rn 87 f.

Das Baugesetzbuch programmiert die Bauleitplanung durch Planungsgrundsätze und Planungsleitlinien, durch Verfahrens- und Organisationsregelungen sowie in § 1 (4) BauGB durch unterschiedliche Anpassungspflichten. Entscheidungen über den Inhalt der Bauleitplanung trifft das Gesetz jedoch nicht.

Das Planungsermessen der Gemeinde im Sinne der der Planung eigenen autonomen Ziel- und Inahltsfindung innerhalt der konkreten Bauleitung wird durch das Abwägungsgebot rechtlich gebunden. Ohne gerechte Abwägung ist rechtsstaatliche Planung nicht möglich. Das Gebot gerechter Abwägung hat über die Bauleitplanung hinaus für öffentliche Planungen insgesamt prägende Bedeutung, w.o. Rn. 89.

 

Abwägungsgrundsätze

Die konkreten Anforderungen, die sich für die Gemeinde auf Grund des Abwägungsgebots des § 1 (7) BauGB ergeben, sind vom BVerwG grundsätzlich geklärt worden (BVerwGE 34, 301). Bei den Planungsgrundsätzen des Abs. 5 und 6 (Planungsleitsätze, Planungsleitlinien) handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe. Der planenden Gemeinde steht daher kein Beurteilungsspielraum darüber zu, was z.B. zu den Bedürfnissen der Wirtschaft, des Wohnens oder des Verkehrs gehört. Die Inhaltsbestimmung dieser Belange ist der Planung vorgegeben.

Die Frage, ob der jeweiligen Planung eine gerechte Interessenabwägung zugrunde liegt, ist der aufsichtlichen und gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugänglich. Der Vorgang des Abwägens und das Ergebnis der Abwägung muss dem Gebot der gerechten Abwägung entsprechen. Nur insoweit unterliegt sie der gerichtlichen  Kontrolle.

Die Anforderungen an das Gebot der gerechten Abwägung hat das BVerwG wie folgt zusammengefasst, BVerwGE 34, 301, 309:

  1. Das Gebot gerechter Abwägung ist verletzt, wenn eine sachgerechte Abwägung überhaupt nicht stattfindet,
  2. wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss,
  3. wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder
  4. wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.

Zwischen den verschiedenen zu berücksichtigenden Belangen kann die Gemeinde sich für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen Belanges entscheiden. Die “elementare planerische Entschließung” der Gemeinde über die städtebauliche Entwicklung und Ordnung ist kein aufsichtlich oder gerichtlich nachvollziehbarer Vorgang.

Das Gebot der gerechten Abwägung richtet sich sowohl an das Planen als Vorgang als auch an den Plan als Produkt dieses Vorgangs. Das Abwägungsgebot verlangt zunächst die Ermittlung und Feststellung des abwägungserheblichen Materials. Die Gemeinde muss darüber entscheiden, welche Belange für die Abwägung überhaupt in Betracht kommen können und sie muss entscheiden, inwieweit das Abwägungsmaterial aufgrund der konkreten Umstände von Bedeutung, also abwägungserheblich ist. Es bedarf weiterhin der Entscheidung, welche Belange von der Planung allenfalls geringfügig betroffen sind und daher unter Umständen bei der Abwägung außer Betracht bleiben können und welche Belange in absehbarer Zeit betroffen werden können, vgl. Battis, Komm BauGB, 13. Auflage, § 1, Rn. 96 ff.

Das Abwägungsgebot umfasst nicht nur eine Ermächtigung zur Abwägung, sondern es begründet zugleich eine Abwägungspflicht. Unterbleibt die Abwägung oder ist sie unvollständig, so ist die Planung fehlerhaft. Die Grundsätze für die planerische Bewertung des Abwägungsmaterials und die Entscheidung darüber, welche Belange vorgezogen bzw. zurückgestellt werden sollen, sind von der Rechtsprechung und der Lehre konkretisiert worden.

Das Gesetz verpflichtet zur Abwägung der öffentlichen und privaten Belange. Bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials sind die von der Bauleitplanung berührten Belange zu ermitteln. Die Belange sind “gegeneinander” abzuwägen, sie sind nach ihren konkreten Gegebenheiten zu gewichten; sie sind “untereinander” abzuwägen, d.h., die in den Belangen enthaltenen unterschiedlichen Gesichtspunkte sind zu gewichten.

Das Gesetz hebt weder die öffentlichen Belange insgesamt noch einzelne öffentliche oder einzelne private Belange derart hervor, dass sie einen automatischen Vorrang beanspruchen. Der Begriff des “Belangs” ist weit auszulegen und im Allgemeinen mit dem Begriff des Interesses gleichzusetzen. Er schließt geschützte Rechtspositionen ein, ist aber nicht darauf beschränkt. 

Die öffentlichen Belange beziehen sich auf alle öffentlichen Interessen, die im Zusammenhang mit der Bodenausnutzung und damit mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung stehen.

Der Begriff der privaten Belange ist ebenfalls weit auszulegen. Er umfasst insbesondere die verfassungsrechtlich geschützten Rechte, wie z.B. Grundeigentum, Bestandsschutz, Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Er umfasst auch sonstige Interessen, die über das Interesse an der Erhaltung einer Rechtsposition hinausgehen, wie z.B. das Interesse eines Unternehmens an einer Erweiterung, Umstellung oder anderweitigen Änderung des Gewerbebetriebs. Das Abwägungsgebot hat drittschützenden Charakter hinsichtlich solcher privaten Belange, die für die Abwägung erheblich sind, BVerwGE 107, 215.

 

Öffentliche Belange gegeneinander und untereinander

Die Belange des Verkehrs können den Belangen des Denkmalschutzes oder der Ortsbildgestaltung widerstreiten, wenn die Verbreiterung von Straßen, die Bildung von Schneisen im Gebäudebestand oder die Anlage von Parkflächen den Abbruch erhaltenswerter Gebäude, die Beeinträchtigung des geschlossenen Ortsbildes u.a. zur Folge haben. Die Befriedigung der Wohnbedürfnisse als öffentlicher Belang kann die Inanspruchnahme des Außenbereichs zu Lasten des Landschaftsbildes oder der Natur erfordern. Die Gemeinde muss durch Abwägung entscheiden, welche der widerstreitenden öffentlichen Belange vorzuziehen sind. Die Entscheidung ist fehlerfrei, wenn sie sachgerecht, also an den Planungszielen orientiert ist und hinreichend gewichtige Gründe das Zurücktreten des einen Belangs hinter den anderen rechtfertigen, BVerwGE 47, 144 (148). Die von der Gemeinde vorzunehmende Gewichtung verletzt das Abwägungsgebot dann, wenn ein Belang unverhältnismäßig und unvertretbar zurückgesetzt wird.

 

Öffentliche und private Belange untereinander

Konfliktsituationen ergeben sich häufig bei Verkehrsplanungen. Die Ausweisung neuer Baugebiete kann verkehrlichen Belangen widerstreiten: Die Verkehrslage auf einer Straße kann durch das erhöhte Verkehrsaufkommen beeinträchtigt werden; umgekehrt kann eine Verkehrsplanung die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung oder auch die Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse infolge von Lärm- und Luftbeeinträchtigungen oder erhöhter Gefahren beeinträchtigen. Die Gemeinde hat sich dabei im Rahmen der Abwägung bei der Bauleitplanung für einen Verkehrsweg unter dem Gesichtspunkt der Abwehr von Lärmbelastungen an dem Schutzmodell des Bundesimmissionsschutzgesetzes auszurichten.

Eine Straße kann zur Trennung einer Siedlung vom vorhandenen Ortsteil führen, der zur Bedarfsdeckung der Siedlungsbewohner dient, und damit die “Wohnbedürfnisse der Bevölkerung” und die “sozialen Bedürfnisse” beeinträchtigen, BVerwGE 71, 150.

Die Hintenansetzung der privaten Belange ist nur dann fehlerfrei, wenn die verkehrlichen Belange nach objektiven Gesichtspunkten gewichtiger und die Nachteile z.B. durch flankierende planerische oder sonstige Maßnahmen ausgeglichen werden. Es bleibt grundsätzlich der Gemeinde überlassen, welcher Mittel sie sich bedient, um zu gewährleisten, dass im Hinblick auf Lärmbeeinträchtigungen den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse Rechnung getragen wird. Zu den abwägungsbeachtlichen Belangen gehört auch das Interesse, von vermehrten Lärmimmissionen bewahrt zu bleiben.

Auf technische Regelwerke sind die Gemeinden grundsätzlich nicht festgelegt. In der bauleitplanerischen Abwägung haben sie die Funktion von Orientierungswerten, von denen je nach dem Umständen der konkreten Planungssituation abgewichen werden darf. Weist ein Bebauungsplan ein neues Wohngebiet aus, das durch vorhandene Verkehrswege Lärmbelastungen ausgesetzt wird, die an den Gebietsrändern deutlich über den Orientierungswerten der DIN 18 005 liegen, ist es nicht von vornherein abwägungsfehlerhaft, auf aktiven Schallschutz durch Lärmschutzwälle oder -wände zu verzichten. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann es abwägungsfehlerfrei sein, eine Minderung der Immissionen durch eine Kombination von passivem Schallschutz, Stellung und Gestaltung von Gebäuden sowie Anordnung der Wohn- und Schlafräume zu erreichen, BVerwGE 128, 238.

Die von einem herkömmlichen Kinderspielplatz ausgehenden Immissionen müssen grundsätzlich hingenommen werden; ein Kinderspielplatz in einem Wohngebiet ist nicht nur zulässig, sondern geboten, um den Kindern gefahrlose Spielmöglichkeiten in zumutbarer Entfernung ihrer Wohnungen zu schaffen, und daher bei der Abwägung entsprechend zu gewichten. Besondere Konflikte treten zwischen Sport und Wohnen auf. Der 18. BImSchV (Sportanlagenlärmschutzverordnung) kommt für die Bauleitplanung mittelbare Bedeutung zu. Ob eine Sportstätte gebietstypisch und damit planungsrechtlich zulässig ist und ob ihr im Einzelfall § 15 BauNVO entgegensteht, ist im Baugenehmigungsverfahren zu entscheiden. Es gibt keinen Rechtssatz, dass Sportplätze in Wohnnähe für Vereinssport oder die Allgemeinheit überhaupt nicht oder nicht zu Tageszeiten besonderen Ruhebedürfnisses nutzbar seien.

 

Private Belange gegen und untereinander

Die Bauleitplanung muss die sich aus widerstreitenden privaten Belangen ergebenden Konflikte bewältigen. Private Belange können untereinander divergieren, weil die Eigentümer z.B. unterschiedliche Vorstellungen über die Planung eines Wohngebiets haben, z.B. Einfamilienhausbebauung oder Mietwohnungen oder Erhalt einer vorhandenen Nutzung. Das Interesse der Eigentümer von Wohngrundstücken, die Aussicht in eine bisher unbebaute Landschaft durch Errichtung von Gewerbebauten beeinträchtigt zu bekommen, muss nicht als schützenswerter privater Belang in die Abwägung eingestellt werden. Abwägungserheblich dagegen ist das Interesse eines Nachbarn an der Beibehaltung von Festsetzungen des Bebauungsplans. Bei der Berücksichtigung der Belange planbetroffener Nachbarn in der Abwägung ist auf “das Empfinden eines Durchschnittsmenschen” und nicht auf die Umstände der individuell Betroffenen abzustellen.

Private Belange können gegeneinander widerstreiten, z.B. wenn ein Teil der Eigentümer in einem Gebiet die ausgeübte Nutzung (Landwirtschaft) fortführen will, andere Eigentümer jedoch die Ausweisung eines Wohngebietes anstreben. Für eine gerechte Abwägung ergeben sich besondere Schwierigkeiten bei einem Nebeneinander von unterschiedlichen und sich gegenseitig beeinträchtigenden Nutzungen, insbesondere bei einem Nebeneinander von Wohnungen einerseits und Industrie, Handel und Gewerbe oder Landwirtschaft andererseits. Die Abwägung der privaten Belange gegeneinander und untereinander zielt auf einen Interessenausgleich. Die berührten privaten Belange dürfen daher nicht ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden, da sonst ein Verstoß gegen Art 3 (1) GG und damit auch gegen Art. 14 (1) Satz 2 GG vorliegt. Der Begriff der privaten Belange umfasst alle Interessen, die durch den Bebauungsplan oder durch dessen Anwendung gegenwärtig oder in absehbarer Zeit getroffen werden, BVerwGE 59, 87 (101).

Zu den zu beachtenden privaten Belangen zählt auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Der Eigentumsschutz für den Gewerbebetrieb bezieht sich auf jedes auf Erwerb ausgerichtete Unternehmen. Abwägungserheblich ist auch das Erweiterungsinteresse eines vorhandenen Gewerbebetriebes oder das Interesse an der Erhaltung oder Nutzung von Erwerbschancen. Abwägungsbeachtlich ist nicht nur das Interesse an der weiteren Ausnutzung des vorhandenen Betriebszustandes, sondern auch das Bedürfnis nach einer künftigen Betriebsausweitung. Dabei ist die “normale Betriebsentwicklung” in Rechnung zu stellen; das Interesse des Betriebs, sich alle Entwicklungsmöglichkeiten offen zu halten, ist nur beachtlich, wenn die durch den Bebauungsplan negativ betroffene Entwicklung des Betriebs entweder bereits konkret ins Auge gefasst ist oder bei realistischer Betrachtung der Entwicklungsmöglichkeiten nahe liegt.