— 23.07.2020 —
Sehr häufig wenden sich Nachbarn gegen ein Bauvorhaben, wenn sie sich dadurch gestört oder in ihrem Eigentum beeinträchtigt fühlen. Dann ist die Frage, welche Rechtsvorschriften nachbarschützend sind, von besonderer Bedeutung.
Mit einer sog. Anfechtungsklage kann nämlich der Nachbar als Dritter gegen eine erteilte Baugenehmigung vorgehen, wenn er sich auf eine sog. drittschützende Norm berufen kann. Die Baugenehmigung wird unbeschadet der (privaten) Rechte Dritter erteilt, vgl. § 71 (4) BauOBln, § 72 (5) BbBauO.
Grundsätzlich ist es nicht Aufgabe des Bauplanungsrechts, das baunachbarliche Beziehungsgeflecht zu regeln, vielmehr sind andere öffentliche und private Belange einzubeziehen. Nicht jede faktische Auswirkung eines Vorhabens kann erfolgreich verhindert werden. So reicht es nicht aus, wenn ein Vorhaben realisiert wird, dass möglicherweise rechtswidrig ist, jedoch keine bestimmten Personen in eigenen Rechten verletzt, vgl. Reidt, Komm. BauGB, 13. Auflage, Vorb. §§ 29-38, Rn. 15.
Einzelne Bürger oder Bürgerinitiativen haben grundsätzlich keine durch ein Klagerecht abgesicherte Kontrollfunktion gegenüber der Bauverwaltung oder einzelnen Bauherren. Grundsätzlich ist deshalb erforderlich, dass ein Bauvorhaben rechtswidrig ist und der Nachbar, der sich dagegen zur Wehr setzt, durch das Vorhaben zugleich in eigenen Rechten verletzt ist.
Insofern muss unterschieden werden zwischen baurechtlichen Vorschriften, die rein objektivrechtlichen Charakter haben und solchen, die auch subjektiv-öffentliche Rechte vermitteln.
Hierfür wurde die sog. Schutznormlehre entwickelt. Danach begründet eine materielle Vorschrift des öffentlichen Baurechts dann ein subjektives Nachbarrecht, wenn sie nicht ausschließlich im öffentlichen Interesse einer städtebaulichen Ordnung, sondern zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dienen soll. Sofern sich dazu nichts ausdrückliches aus der betreffenden Vorschrift ergibt, muss es im Wege der Auslegung ermittelt werden.
Es wird zwischen unmittelbar nachbarschützenden und mittelbar nachbarschützenden Vorschriften unterschieden.
Bei lediglich mittelbar nachbarschützenden Vorschriften müssen noch besondere, in der Vorschrift ausdrücklich genannte oder zumindest stillschweigend geregelte Umstände hinzukommen.
Ein Beispiel für unmittelbaren Nachbarschaftsschutz ist § 30 (1) BauGB und die damit im Zusammenhang stehenden Normen bezüglich der Art der baulichen Nutzung. Die Festsetzung von Baugebieten nach den §§ 2 bis 11 BauNVO (in einem Bebauungsplan) haben kraft Bundesrecht nachbarschützende Wirkung für die Eigentümer von Grundstücken innerhalb des Baugebiets. Die Gebietsfestsetzung verbindet die Betroffenen zu einer sog. bau- und bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft, vgl. BVerwG Beschl. v. 18.12.2007 – 4 B 55/07. Jeder Grundstückseigentümer im Plangebiet kann einen Anspruch auf Wahrung des Gebietscharakters haben und gebietsfremde Nutzungen abwehren. Der Anspruch geht aber nur soweit, wie die wechselseitige Prägung der benachbarten Grundstücke reicht.
Auch im unbeplanten Innenbereich, § 34 (2) BauGB, bestehen nachbarliche Abwehransprüche in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung nach denselben Grundsätzen wie im Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Die Eigentümer innerhalb eines faktischen Baugebiets haben ebenso einen Anspruch auf Wahrung des Gebietscharakters, vgl. BVerwG Beschl. v. 10.1.2013 – 4 B 48.12.
Als Beispiel für mittelbaren Nachbarschutz gilt das Merkmal des “Einfügens” in § 34 (1) BauGB. Da dieses Merkmal der geordneten städtebaulichen Entwicklung dient, entfaltet es üblicherweise keinen sog. unmittelbaren Drittschutz. Im Verbund mit dem in § 15 (1) BauNVO verankerten Rücksichtnahmegebot kann sich im konkreten Fall jedoch ein Abwehranspruch des Nachbarn ergeben.
Das Gebot der Rücksichtnahme wirkt mittelbar nachbarschützend, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist, BVerwGE 109, 314. Der konkrete Einzelfall muss bewertet werden, wobei Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit von Bauherrn und Nachbarn zu betrachten sind.
Das Gebot der Rücksichtnahme dient als Auslegungshilfe dafür “ob” eine bereits vorhandene Norm aus dem Baurecht Nachbarschutz vermittelt oder nicht, ebenso kann ermittelt werden “wie” die nachbarschützende Norm den Betroffenen schützen will.
Maßgeblich für die Bewertung ist die konkrete Situation zum Zeitpunkt der Genehmigungsentscheidung.
Nachbar i.S.d. öffentlichen Baurechts ist nur der Grundstückseigentümer oder ein dinglich Berechtigter (Erbbauberechtigte, Nießbraucher), nicht der Mieter oder Pächter. Keine Nachbarn im Sinne des Bauplanungsrechts sind Inhaber eines Wohnrechts. Auch familienrechtliche Bindungen zum Grundstückseigentümer vermitteln keinen nachbarlichen Abwehranspruch. Der Eigentümer muss seine Rechte selbst geltend machen, BVerwG Beschl.v. 26.7.1990 – 4 B 235/90.
Außerhalb des Bauplanungsrechts kann der Nachbarbegriff in personeller HInsicht weiter gehen.
In räumlicher Hinsicht ist der Begriff des Nachbarn weiter, Abwehransprüche bestehen nicht nur dann, wenn das Nachbargrundstück unmittelbar an das Baugrundstück anschließt. Entscheidend ist vielmehr der Umkreis, in dem sich das beanstandete Vorhaben auswirken kann und ob diese Auswirkungen zum Schutz der Nachbarschaft verhindert werden sollen. Im Einzelfall ist die räumliche Reichweite durch Auslegung der einschlägigen Bestimmungen und durch Feststellungen vor Ort zu ermitteln, vgl. Reidt, Komm. BauGB, 13. Auflage, Vorb §§ 29-38, Rn.27.
- 70 (1) Brandenburgische Bauordnung lautet: Nachbarn sind die Eigentümer oder die Erbbauberechtigten der an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücke.
Gem. § 70 (1) Satz 1 Bauordnung Berlin soll die Bauaufsichtsbehörde die Eigentümer benachbarter Grundstücke (Nachbarn) vor Zulassung von Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen benachrichtigen, wenn zu erwarten ist, dass öffentlich-rechtlich geschützte nachbarliche Belange berührt werden.
An sich plankonforme Vorhaben können im Einzelfall im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung unzulässig sein, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart eines Baugebietes widersprechen oder wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden, § 15 (1), Satz 1 und 2 BauNVO.
Ein Nachbar kann sich im Einzelfall darauf berufen, dass die Verwirklichung eines weiteren Bauvorhabens im Hinblick auf die Anzahl ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets eintritt, wenn damit aufgrund einer gebietswidrigen Häufung der betreffenden Nutzung der Gebietscharakter “kippen” würde, z.B. wenn die Häufung von Nutzungen im Sinne des § 4 (2) Nr. 2 BauNVO nicht mehr wohngebietsverträglich wäre oder wenn bei einer überwiegenden Häufung von Wohnnutzungen in einem Mischgebiet die Gefahr droht, dass es sich zu einem allgemeinen Wohngebiet entwickelt, vgl. BVerwG Urt. v. 4.5.1988 – 4 C 34/86.
Ein im Baugebiet zulässiges Vorhaben darf hinsichtlich seiner Lage nicht der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Es gilt jedoch kein Optimierungsgebot dahingehend, dass ein Vorhaben an einer Stelle errichtet werden müsste, an der die Nachbarschaft weniger belastet wird, § 15 (1) Satz 1 BauNVO enthält kein Gebot der Alternativprüfung. Ist ein Vorhaben an dem gewählten Standort zulässig, muss es genehmigt werden, auch wenn es möglicherweise innerhalb des Baugebiets besser geeignete Standorte gäbe, BVerwG, Beschl. v. 22.11.2010 – 7 B 58/10.
Die in § 15 (1) BauNVO ebenfalls genannten Kriterien Umfang und Zweckbestimmung beziehen sich insbesondere auf gewerbliche Nutzungen mit einer atypischen Betriebsgröße oder einem mit der Nutzung zwar verbundenen, jedoch nicht mehr gebietsangemessenen Zu- und Abgangsverkehr.
Umfang und Zweckbestimmung stehen in einem engen Zusammenhang mit § 15 (1) Satz 2 BauNVO, der sich auf die von einem Vorhaben ausgehenden Belästigungen oder Störungen bezieht. Das Gebot der Rücksichtnahme wirkt in zwei Richtungen. Zum einen können einzelne Vorhaben, die mit unzumutbaren Belästigungen oder Störungen verknüpft sind, durch den Eigentümer eines Grundstücks abgewehrt werden, auf dem eine störungsempfindliche Nutzung stattfindet. Zum anderen können auch Eigentümer von Grundstücken mit emittierenden Nutzungen im Einzelfall Vorhaben abwehren, die nicht mehr zumutbaren Störungen ausgesetzt wären. Langfristig soll eine möglichst konfliktfreie bauliche Nutzung gewährleistet bleiben, vgl. Reidt, Komm BauGB, 13. Auflage, Vorb. §§ 29-38, Rn. 52.
Von Bedeutung ist, dass es nicht nur um unzumutbare Auswirkungen im Baugebiet selbst geht, sondern auch in dessen Umgebung, § 15 (1) Satz 2 BauNVO wirkt gebietsübergreifend. Relevant sind nicht nur Auswirkungen, die die Schwelle der Gesundheitsbeeinträchtigung erreichen oder gleichsam enteignenden Charakter haben, es geht um nachteilige Auswirkungen, die dem Betroffenen nicht mehr zugemutet werden sollen, weil sie eine funktionsgerechte Nutzung der bereits vorhandenen baulichen Anlagen unangemessen beeinträchtigen, w.o. Rn. 52.
Bedeutend sind in erster Linie schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 (1) Bundesimmissionsschutzgesetz, aber auch sonstige städtebaulich erhebliche Einwirkungen, die die Umgebung beeinträchtigen, z.B. massive optische Störungen, vgl. VGH München, Beschl. v. 22.1.2004 – 1 ZB 03.294 zu einem Megaposter in der Nähe eines Wohngebietes oder optisch bedrängende Wirkungen, vgl. OVG Münster Urt. v. 9.8.2006 – 8 A 3726/05. Auch Störungen aufgrund eines deutlich erhöhten Gefährdungspotentials und damit verbundener zusätzlicher Unruhe in einem Baugebiet gehören dazu. Es muss aber stets um städtebaulich und nicht etwa nur polizeirechtlich relevante Auswirkungen gehen.
Festgestellte Beeinträchtigungen für eine vorhandene störende oder störungsbetroffene Nutzung führen nicht zwangsläufig zur Unzulässigkeit eines neu hinzukommenden Vorhabens. Vom Bauherrn des neu hinzukommenden Vorhabens sind zumutbare Beschränkungen hinzunehmen. Diese sind gegebenenfalls als Nebenbestimmung in eine Baugenehmigung aufzunehmen, z.B. Schallschutzmaßnahmen, Anforderungen an die Filterung von Gerüchen. Grundsätzlich ist es Sache des Bauherrn der später hinzukommenden Nutzung, den Nachweis dafür zu erbringen, dass die maßgeblichen Zumutbarkeitskriterien eingehalten werden.
Die Unzumutbarkeit von Belästigungen oder Störungen im Sinne von § 15 (1) Satz 2 BauNVO knüpft in erster Linie an den Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen in § 3 (1), § 5 (1) Nr. 1 und § 22 (1) Nr. 1 Bundesimmissionsschutzgesetz an. Praktisch von großer Bedeutung sind die Grenz-, Richt- und Orientierungswerte in den einschlägigen Regelwerken. Das gilt insbesondere im Bereich von Geräuschimmissionen.
Zur Feststellung der Zumutbarkeit von Immissionen, die von baulichen Anlagen ausgehen, dienen Regelwerke wie z.B. die TA Lärm, die Freizeitlärm-Richtlinie des Länderausschusses für Immissionsschutz, die TA Luft u.a.
Werden die in den fachlich anerkannten und nicht überholten Regelwerken genannten Werte eingehalten, ist in der Regel davon auszugehen, dass keine unzumutbaren Belästigungen oder Störungen vorliegen. Liegen keine Regelwerke oder besondere Umstände vor, bedarf es einer Bewertung anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls. Für die Prüfung, ob es zu schädlichen Umwelteinwirkungen kommt, ist eine objektive Betrachtung notwendig. Auf persönliche Empfindlichkeiten oder individuelle gesundheitliche Umstände kommt es nicht an, vgl. BVerwG Beschl.v. 14.2.1994 – 4 B 152/93.
Grenzen Gebiete mit unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit innerhalb eines Bebauungsplangebietes oder auch darüber hinaus aneinander, sind die auf einzelne Baugebiete bezogene Grenz-, Richt und Orientierungswerte nicht hinreichend aussagekräftig. Entsprechendes gilt auch für die Gemengelagen. Es bedarf dann im Hinblick auf die Wechselseitigkeit der zu wahrenden Rücksichtnahme einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls.
Zu berücksichtigen sind dabei neben dem Ziel des Plangebers, bestimmte Nutzungen zu ermöglichen auch die Ortsüblichkeit der Immissionen, die Lage einer störungsempfindlichen Nutzung, die soziale Adäquanz und Akzeptanz der Nutzung und ähnliches.
Nicht von Bedeutung für das Gebot der Rücksichtnahme sind bloße Wertminderungen, Verschlechterungen des Ausblicks oder ganz allgemeine Verschlechterungen des nachbarschaftlichen Milieus.
Entscheidend ist allein, ob es zu einer dem Betroffenen unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten seines Grundstücks kommt. Davon unabhängige Reduzierungen des Verkehrswertes eines Grundstücks, z.B. weil sich die Lage als solches verschlechtert oder weil die bisher freie Aussicht ins Gelände entfällt, sind grundsätzlich ohne Belang, VGH München Beschl. v. 14.6.2013 – 15 ZB 13.612. Sie sind regelmäßig Auswirkungen, die allein darauf beruhen, dass die Eigentümer von Nachbargrundstücken bisher das ihnen zustehende Baurecht nicht oder nicht in vollem Umfang ausgenutzt haben. Darauf hat niemand einen schutzwürdigen Anspruch.
Dritte (Nachbarn) können auch auf Rechtsbehelfe gegen die Zulassung oder Durchführung eines Vorhabens verzichten, u.U. auch gegen Leistung einer Entschädigung. Nachbarrechtliche Abwehransprüche können verwirkt sein, wenn die Einlegung von Rechtsbehelfen als treuwidrig angesehen werden muss. So muss sich ein Nachbar ab dem sichtbaren Beginn der Bauausführung und der Erkennbarkeit der für ihn relevanten Auswirkungen des Vorhabens so behandeln lassen, als wenn ihm die Baugenehmigung bekannt gegeben worden wäre. In diesem Fall ist der gebotene Rechtsbehelf binnen eines Jahres ab der Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der tatsächlichen Bauausführung einzulegen.
Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben können Abwehransprüche verwirken, wenn der Bauherr infolge eines bestimmten Verhaltens des Nachbarn darauf vertrauen durfte, dass dieser Abwehransprüche nicht mehr geltend machen wird, er tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird und aus diesem Grunde bestimmte Maßnahmen durchgeführt hat, so dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Abwehrrechtes ein unzumutbarer Nachteil entstünde, vgl. BVerwG Beschl. v. 12.1.2004 – 3 B 101/03.
Nachbarrechtliche Abwehransprüche kommen auch dann nicht in Betracht, wenn sie sich als unzulässige Rechtsausübung darstellen, z.B. wenn der Nachbar selbst in vergleichbarer Weise zu Lasten des Bauherrn gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt.